Erlebnissen
Dies ist ein Brief, den uns Lenas Mutter vor einiger Zeit geschrieben hat, nachdem wir ihr von unserer neuen Homepage und dem Ansinnen berichtet haben, anderen Eltern durch persönliche Briefe wirkliche Einblicke in diese ganz besonderen, familiären Situationen zu geben.
Wir bedanken uns für die berührende, offene und vor allem ermutigende Weise, in der Lenas Mutter uns ihren Lebensweg, den Alltag und das Familienleben mit Lena erzählt.
Fast drei Jahre mussten wir warten, drei Jahre voller Hoffnung, Enttäuschung und Angst, nie ein eigenes Kind haben zu dürfen. Drei Jahre... Viel Zeit für Gedanken. Gedanken darüber, wie ein Leben ohne Kinder aussehen könnte, aber auch Gedanken und immer konkretere Vorstellungen darüber, wie es mit Kindern sein könnte. Was fühlt man, wenn man endlich einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen hält? Was, wenn man es den Eltern, Schwestern, Freunden erzählt? Das Baby das erste Mal beim Ultraschall sieht? Den ersten Tritt spürt? Der Bauch wächst? Und was fühlt man wohl erst, wenn man das so sehr erwünschte und ersehnte Kind in den Armen halten kann?
Ich sah alles vor mir - doch es gab keine Schwangerschaft. Fast drei Jahre lang.
Dann träumte ich, ich sei schwanger. Als ich aufwachte machte ich einen Test, fest darauf vorbereitet, dass er wieder nur einen Strich anzeigen würde. Machte der Test aber nicht. Er zeigte zwei Striche an. „Der ist kaputt!" Noch einen Test - das gleiche Ergebnis. Da war es nun, was ich, wir uns so sehr gewünscht hatten. Aber alles war anders als in meinen Vorstellungen und es kam auch alles ganz anders als gewünscht.
Wo war die unglaubliche, tränenreiche Freude über einen positiven Schwangerschaftstest aus meinen vielen Vorstellungen und Gedanken? Sie war da, aber weit hinter dem plötzlich ständig in meinem Kopf präsenten Satz:
„Es kommt noch was.“
Ich dachte, ich kann mich nicht richtig freuen, weil vielleicht die Tests doch falsch waren. Als ich kurz darauf beim Frauenarzt war, der mir einen kleinen weißen Punkt im Ultraschall zeigte und somit die Schwangerschaft bestätigte, dachte ich nur: „Du freust Dich erst richtig, wenn Du das Herzchen schlagen sehen kannst, denn: Es kommt noch was.“
Gut zwei Wochen später sah ich das Herzchen schlagen und dachte: „Du freust Dich erst richtig, wenn aus dem pulsierenden Punkt ein Kind zu erkennen ist, denn: Es kommt noch was.“
Und so ging es weiter, Woche um Woche. Ich genoss die Schwangerschaft sehr, doch der ständige Satz in meinem Kopf dämpfte die Freude. Es ging mir gut, der Bauch wuchs, das Baby entwickelte sich prächtig, der Geburtstermin rückte näher, die Angst, der Satz würde Wahrheit, stieg. Was, wenn wir unser Baby jetzt verlieren? Doch das passierte nicht.
Nach 9 schönen Monaten erblickte an einem sonnigen Sonntagmorgen unsere Lena das Licht der Welt. Punkt sechs Uhr.
Der Satz war weg oder nur von unbändiger Freude überdeckt. Sie war da, klein und wie man uns lächelnd sagte, gesund. Es waren wunderschöne Wochen mit Lena. So ein Sonnenschein, immer gut gelaunt.
All unsere freie Zeit verbrachten wir mit ihr und abends bekam Lena die von ihr so sehr geliebte Babymassage. Sie strampelte, spielte mit ihren Händchen, brabbelte und lernte bald den Kopf zu heben.
Lena wurde viereinhalb Monate - unser größtes Glück auf Erden. Morgens auf dem Wickeltisch fielen ihre Beinchen einfach auf die Seite, bewegten sich nicht. Selbst als ich ihr die kleinen Füßchen kitzelte, bewegten sie sich nicht. Seltsam, aber vielleicht war Lena einfach noch müde.
Im Laufe des Tages änderte sich nichts und auch in den nächsten Tagen nicht. Aber wirkliche Sorgen machten wir uns nicht. Mit knapp 5 Monaten konnte sie in Bauchlage den Kopf nicht mehr heben. Wir dachten, sie hat sich was verklemmt, verrenkt, nichts Dramatisches und machten einen Termin beim Orthopäden.
,,Alles gut, alles frei beweglich, nichts verrenkt.“ Toll...
Die Woche darauf hatten wir einen Termin bei unserer Kinderärztin. Doch auch die war überfordert uns zu sagen, was mit Lena los war. Ernsthaft beunruhigt waren wir nicht. Sie gab uns bei ihrer Praxiskollegin, die zudem Neurologin war, einen Termin wenige Tage später.
Der Termin war... seltsam. Eine ruhige, irgendwie wortkarge Frau, kurze weiße Haare. Schaute Lena an, klopfte ihr mit dem Reflexhämmerchen auf Knie und Ellenbogen, nix passierte. ,,Ich nehme ihr morgen Blut ab.“ „Warum nicht gleich jetzt?“ „Das wird ins humangenetische Institut nach München geschickt und muss gefroren sein. Das geht heute nicht mehr.“ „Ah.“ Wir fragten sie nicht mal, worauf sie untersucht oder was sie vermutet. Wahrscheinlich besser so.
Drei Wochen später, wenige Tage bevor Lena 6 Monate alt wurde, war endlich das Ergebnis da.
„Kommen Sie mit jemandem in die Praxis. Solche Befunde besprechen wir nicht allein.“ Oh...
Dort angekommen, meine Mutter begleitete Lena und mich, saßen wir den beiden Kinderärztinnen gegenüber. Sie erklärte was von der Reizweiterleitung, dem Gehirn, den Nerven, dem Spinalkanal und nannte uns als Ursache für Lenas Schwäche die Krankheit Spinale Muskelatrophie Typ 1, CSMA 1.
Davon hatte ich noch nie was gehört.
Dann sehe ich alles nur noch Tränen verschwommen, und höre unter Schluchzen Sätze wie: „Wir können Lena nicht helfen. Sie wird immer schwächer werden. Es gibt kein Medikament. Sie wird bald nicht mehr essen können“
Nicht mehr essen? Mein Kind? Das so gerne isst und jeden Löffel, der in ihrem kleinen Mund verschwindet, mit einem lauten „Mmmmh!“ kommentiert?
,,Frau Zimmermann, feiern Sie Lenas 1. Geburtstag ganz groß. Es wird wahrscheinlich der einzige sein“ WOW.
Die Tage danach sind verschwommen vom Schock. Wahrscheinlich haben wir fast nur geweint und versucht, das Unverständliche zu verstehen oder einfach gehofft, aufzuwachen. Aber wie wenn man schon wach ist?
Jetzt ist Lena 7 und noch immer bei uns. Noch immer dürfen wir sie in den Armen und nicht nur in unseren Gedanken und Herzen halten.
Wir sind dankbar, unendlich dankbar und trotz aller Schwere macht Lena es uns mit ihrer fröhlichen Art leicht, glücklich zu sein, zu lachen, das Leben zu genießen. Das Leben, das so ganz anders ist als wir es uns vorgestellt hatten.
Es kommt noch was.
Doch wie ist das Leben mit einem schwerkranken Kind, das jederzeit sterben kann? Es ist zermürbend, stressig, anstrengend, auslaugend, herausfordern, aber trotz aller Sorgen, Ängste und Schwierigkeiten wunderschön.
Du weißt, Dein Kind wird nie laufen. So kommen plötzlich Physiotherapeuten und spezielle Muskelkliniken in Dein Leben. Die Wohnung füllt sich mit Therapiestuhl, Pflegebett, Badeliege, Bewegungsrad, Reha Buggy und vielem mehr. Wir lebten irgendwie normal weiter nach der Diagnose, nur viel bewusster. Kauften ein Tragetuch um Lena den ganzen Tag bei uns zu haben. Sogen jede klein Bewegung, jedes Lächeln, jedes Geräusch von ihr mit jeder Pore unseres Körpers in uns auf.
Als Lena eineinhalb war, wurde uns zum ersten mal bewusst, was die Ärzte uns zu der Krankheit alles gesagt hatten. Lena war zum ersten Mal erkältet und konnte wegen der schon sehr schwachen Muskeln das Sekret nicht abhusten. Unsere Ärztin schickte uns vorsichtshalber in die Kinderklinik. Die erste Nacht direkt auf die Intensivstation, damit man gleich eingreifen kann, wenn etwas passiert.
Da lag die Kleine, an einen Monitor angeschlossen singend im Bett, ich saß hochschwanger auf einem Hocker ohne Lehne neben ihrem Bett.
„Es ist 20 Uhr. Besuchszeit ist zu Ende. Sie müssen gehen Frau Zimmermann.“ Ich hätte mich auch an Lenas Bett gekettet, um bei ihr bleiben zu können. Doch ich hatte mich wohl klar genug ausgedrückt, so dass das nicht notwendig war. Vielleicht hatten sie auch nur Angst, eine Hochschwangere so zu stressen, dass sie am Ende Wehen bekam. Egal was, ich blieb die ganze Nacht bei Lena sitzen.
Am nächsten Tag kamen wir auf Normalstation. Endlich ein Bett neben ihr zum Hinlegen. Lena fieberte, brodelte und schlief sehr viel. Die Physiotherapeutin kam, um das Sekret in Lenas Lungen zu lockern. Der Überwachungsmonitor schlug plötzlich Alarm. Die Sättigung war bei 790/o. Ärzte kamen ins Zimmer. Lena musste inhalieren, wurde blau, brodelte, sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und stammelte bei jedem Ausatmen: „Mama ist da. Mama ist da“
Wir kamen wieder auf Intensiv. Lena nahmen die Ärzte mit sich, ich durfte nicht bei ihr bleiben. Sie hatte einfach aufgehört zu atmen...
Tobi und meine Mutter waren da und bald durften wir zu Lena. Aber wie sah sie aus?
Im künstlichen Koma, keine Reaktion, intubiert, an 1000 Schläuchen. Unser kleines Mädchen.
,,Das Sekret hat ihr den Atem gestockt.“ So lag sie 2 Wochen da. Den ganzen Tag verbrachte ich an ihrer Seite. Neben dem Absaugen lernte ich das Sondieren von Nahrung. Lena hatte eine PEG bekommen, weil „Infekte schwächen solche Kinder sehr und sie wird nicht mehr essen können." Zudem wurde uns für nachts ein Beatmungsgerät aufgebrummt.
Nach fast 5 Wochen durften wir unser lebensbejahendes Mädchen endlich wieder nach Hause holen. Mit ganz vielen neuen Hilfsmitteln und Geräten. Lena hat sich gut erholt, nur essen kann sie wirklich nicht mehr und mittlerweile wird sie oft rund um die Uhr beatmet. Fälle wie diesen hatten wir in den letzten Jahren häufig. Immer wieder auf Intensiv, um ihr Leben bangen und nicht wissen, ob man sie wieder mit nach Hause nimmt oder der Tag x kommt.
Lena ist geistig und sprachlich gesund und besucht seit 2011 eine ganz normale Regelgrundschule mit gesunden Kindern. Sie kommt in der Schule gut mit und nach anfänglicher Skepsis ist sie von den Klassenkameraden gut angenommen worden und hat einige feste Freundinnen, mit denen sie sich auch außerhalb der Schule zum Spielen trifft.
In der Schule wird Lena von einer Krankenschwester begleitet. Sonst könnte sie nicht in die Schule gehen. Beatmungsgerät und Überwachungsmonitor begleiten Lena und müssen von der Krankenschwester kontrolliert werden, ebenso ihre Vitalwerte. Lena muss Essen sondiert bekommen und da sie sich kaum mehr bewegen kann, braucht sie viel Assistenz und Unterstützung, um am Unterricht teilnehmen, schreiben, lesen und vieles mehr zu können.
Wir sind dankbar, dass Lena trotz aller Umstände ein etwas normales Leben führen kann - wenn man entsprechende Hilfe zur Verfügung hat. Lenas Lebensqualität ist durch die Schule enorm gestiegen. Ihre Augen sprechen Bände. Als Eltern kann und muss man viel leisten mit einem schwer kranken Kind. Aber man kann nicht alles schaffen und ist auf Hilfe angewiesen.
Der ambulante Pflegedienst ermöglicht nicht nur, dass Lena in die Schule gehen kann. Er ist auch dafür verantwortlich, dass wir seit fast 3 Jahren nachts wieder schlafen können. Da Lena sich nicht alleine drehen kann ruft sie im Halbschlaf alle 20-30 Minuten, um umgedreht zu werden. Lange haben wir als Eltern das selbst gemacht. Nie wirklich Feierabend, nie einen Film ohne Unterbrechung anschauen, nie durchschlafen.
Nun ist das möglich und somit hat auch unsere Lebensqualität zugenommen. Der Abend gehört uns Eltern. Abschalten, ausspannen, reden, Filme schauen und danach ohne Unterbrechungen schlafen und Kraft tanken können.
Auch wenn für mich der Schritt einen Pflegedienst zu holen und mein Kind nachts „abzuschieben“, anfangs sehr schwer war, bereue ich ihn nicht. Ich ärgere mich eher über mich selbst, dass ich nicht früher Hilfe in Anspruch genommen habe.
Nun bin ich entspannt und kann die Tage mit meinen Kindern wieder genießen.
Eva Zimmermann, Januar 2013